6 Nur ein Leben Teil1

Reisebericht

Nur ein Leben... - Lawinen Erfahrung

Konzentration. Ich fahre knapp unter der Gratkante, werde schneller und visiere den Punkt, an dem ich den Schwung abgehakt um die Kurve drücken will...

Unsere Abfahrt ist weg

Im nächsten Moment sitze ich mit leicht weichen Knien an den steilen Hang gelehnt auf einer harten Schneeschicht, knapp über mir der Grat und unter mir … nichts. Mit meiner Querfahrt habe ich ein Schneebrett auf etwa 15 Meter Breite ausgelöst, das unter mir kompakt die Steilrinne hinabrauscht, über eine felsdurchsetzte Stufe fließt und in der breiten Wanne 100 Meter unter uns ein weiteres Brett auslöst. Ich schaue zu Michi hinüber, der sich inzwischen versichert hat, dass bei mir alles passt, und mir unzweideutig die Dimension des Schneebretts klar macht: „Des Ding fließt immer noch, unsere Abfahrt ist weg!“ Eine Lawinen Erfahrung die man kein zweites mal machen muss.

Rückblende

Super Tag. Schon bei der Auffahrt von Hintertux Richtung Gefrorene Wand wissen wir, dass heute am ersten Tag nach diesen „Aprilschneefällen“ die Bedingungen hervorragend sind. In der Gondel schwebend zirkeln schon erste Freerider unter uns ihre Spuren in die pistennahen Pulverhänge. Sonne, fetter Spray und natürlich die rekordverdächtige Schneelage dieses Winters in Nordtirol.

Wir sind hier, um eine Spezialrunde vom Skigebiet über den Kleinen Kaserer auszuchecken. Als abfahrtsorientierte Skifahrer eine verlockende Option, für nur etwa 100 Höhenmeter Tänzelei über einen steilen Schneegrat mit einer Abfahrt belohnt zu werden, die Tourengeher bei diesem Berg ansonsten nur mit schweißtreibenden 1600 Höhenmetern Aufstieg bekommen. Wir wühlen uns also schon bald den kurzen exponierten Grat hinauf… Sonne, ein bisschen alpines Ambiente und die Motivation, mal wieder nicht führungstechnisch unterwegs zu sein, sondern mit meinem Kollegen und Freund Michi. Die Situation ist hier anders. Wir haben heute nicht die Verantwortung, Entscheidungen auf Tour für eine Gruppe zu treffen, sind in keiner Garantenstellung. Die Kompetenzen sind gleich verteilt, jeder weiß, dass der Partner Gefahren ebenso erkennt und kompetent abschätzen kann. Höheres Risiko wird eigenverantwortlich und bewusst eingegangen. Den ganzen Winter waren wir nicht zu einer „Privataktion“ gekommen, weil wir viele Tage und Wochen mit unseren Kunden unterwegs waren. Arbeit, die Spaß gemacht hat, aber natürlich eine ganz andere, direktere Verantwortungssituation infolge des offenkundigen Kompetenzgefälles mit sich bringt als heute.

Wir fotografieren viel und genießen die spektakulären Stellen am Grat. Während der Wühlerei löse ich ein kleines Schneebrett aus, das sich etwa 100 Meter in flacheres Gelände in Richtung Piste ergießt. Wir nehmen’s kurz zur Kenntnis, aber kein Wunder, hier oben ist es sehr steil und natürlich ist der Schnee kammnah leicht gebunden. Fast schon zu cool gehen wir über dieses Ereignis hinweg und spuren die letzten Meter zum Gipfel.

Der Blick in die Nordflanke entlockt uns ein kurzes „ups“: steil und groß. Erst gut 1000m unter uns läuft die wannenartige Nordseite des Berges im flachen Talboden aus. Wir erspähen eine Direkteinfahrtsmöglichkeit leicht rechts vom Gipfel. Der augenscheinlich lawinentechnisch logischere Abfahrtsweg würde links über eine Rücken führen und erst später wieder nach rechts in die große Mulde unter uns zurückführen. Wir liebäugeln mit der Direttissima.

Michi ist motiviert, ich bin skeptisch. Natürlich ist das Gefühl immer da, wenn man steile Einfahrten in große Hänge fährt. Wer hat in so einem Moment keine Grundanspannung? Wir besprechen uns kurz, wissen beide, dass das Gelände im lawinenkundlichen Sinn als „extrem steil“ gilt, der Hang zudem leicht konkav ist. Nach wie vor Skepsis. Wir einigen uns darauf, dass ich zunächst nah am Grat in die kleine, muldenartige Einfahrt quere und dann einen kurzen, aber fotogenen Turn mit viel Spray in den blauen Zillertaler Himmel nahe der Gratkante setze. Dann nochmal Stopp und abermaliges Begutachten des Hanges … los geht’s…

… Ich zwinge mich zur Ruhe, bewege mich langsam und systematisch. Linken Ski abschnallen, rechten Ski abschnallen, fester Stand im von der Lawine glattrasierten Steilhang. Langsam stapfe ich zurück zum Gipfel.

Wir sind beide sprachlos, verstehen aber stillschweigend, dass wir hier einfach nur Glück hatten. Glück, dass unsere Fehleinschätzung und unser offensichtlich leichtfertiges Verhalten nur zu einem gehörigen Schuss vor den Bug geführt hat. Der Lawinenkegel erstreckt sich langgezogen über das Kar und endet 800 Meter unter uns.

Verblendung:
Wir haben uns hinreißen lassen, die positive Grundstimmung (Sonne, Powder etc.) in die lawinenkundliche Beurteilung miteinfließen zu lassen, die solche emotionalen Manipulationen nicht verträgt. Ein Bereich, der nüchtern beurteilt werden muss hinsichtlich objektiver Kriterien (Steilheit, Exposition, Geländeform), und in den darüber hinaus vor Ort Wahrnehmungen im Gelände sowie erfahrungsbedingte Momente des Einzelnen einfließen. Nur dann ist fundierte Beurteilung möglich.
Dass dieses Gelände hinsichtlich Steilheit etc. ein „Restrisiko“ birgt, war uns klar, muss klar sein, wenn man in solche Hänge nach Neuschnee einfährt.
Dass wir die Zeichen von zuvor am Grat (kleiner Lawinenabgang; Windzeichen; konkave, triebschneeanfällige Hangform) in unsere Entscheidung nicht eingebunden haben und nicht zu einem klaren „Nein“ gekommen sind, schockiert uns nachträglich.

Verdammnis:
Wir waren uns beide nicht sicher, denn Sicherheit, gibt es hier eh nicht. Es gibt nur Restrisiko. Unser Problem war, sich nicht durch obigen Prozess bewusst zu machen, welches Restrisiko wir gerade dabei sind stillschweigend in Kauf zu nehmen. Wäre die Entscheidung sonst anders ausgefallen? Hoffentlich.
Persönlich und als Team haben wir in dieser Situation aber auch nicht schlüssig gehandelt. Beide wussten wir, dass es sich um eine extreme Einfahrt handelt, ich war nervös, hatte Bedenken. Beide haben wir hier aber nicht eingehakt:
Michi nicht, weil wir ansonsten zum Schluss gekommen wären, dass eine zweifelhafte Bewertung für den Hang durch einen von uns für dieses Gelände schon ausreichen muss, um nicht hineinzufahren.
Ich selbst nicht, weil ich meine anfänglichen Zweifel nicht in eine konsequente Entscheidung abgeleitet habe. Trotz des Plans „nur“ einen abgehakten Schwung nah am Grat für ein Foto zu machen und dann die Sache nochmals anzuschauen, ist offensichtlich, dass ich 3 Meter tiefer ziemlich sicher nicht mehr stehen geblieben wäre. Dieser Kompromiss-Plan war unsinnig und weit weg von einem „guten Risiko“.

Vergebung:
Denke ich zurück an die oben beschriebenen Momente, kann ich gerne auf sie verzichten. Zunächst. Aber das Thema „Lawine“ ist unzweifelhaft ein erfahrungsbedingtes. Denn trotz Rechnerei nach Munter oder anderen strategischen Mitteln ist der Einfluss von Erfahrung oder „Bauchgefühl“ bei komplexen und nicht 100% fassbaren Parametern wichtig. Erfahrung kann aber im Bereich Lawinen nicht nur immer positiv sein. Das ist keinesfalls ein Appell zu leichtfertigem Verhalten, weil man sonst nichts „erfahren“ würde im wortwörtlichen Sinne. Sondern die nüchterne Feststellung, dass man leider insbesondere aus solchen Situationen lernen kann. Denn nur dann werden eigene Fehler offensichtlich.

Sicherlich habe ich am Berg auch schon ein anderes Mal Fehler gemacht, die nicht so unzweideutig gezeigt haben, dass mein Verhalten suboptimal war. Ist alles gut gegangen, kann man zwar auch diszipliniert Selbstreflexion betreiben, es werden sicherlich aber auch Fehler gemacht, die mangels weiterer erkennbarer Konsequenzen entweder nicht reflektiert oder gar nicht als solche erkannt werden.
Natürlich aber ist das Lernen aus offensichtlich negativen Erfahrungen fatal: Denn solche Situationen bewusst und vermehrt aufzusuchen, verhält sich tendenziell indirekt proportional zur Lebenserwartung beim Bergsteigen. Allerdings kann man für das eigene Handeln unscharfe Grenzen, wie sie in der Lawinenkunde oft auftreten, natürlich griffiger und eben erfahrbar machen, wenn der Erfahrungsschatz auch einige einprägsame negative Erfahrung birgt. Einprägsam ist dabei insbesondere, wenn einem die Grenze so klar vor Augen geführt wird, dass man nur noch ehrlich zu sich selbst sein kann. Denn egal mit welchen Schlagwörtern („Expertenfalle“, „Risk-Shift“ etc.) man es versieht, es bleibt am Ende die banale Erkenntnis: Ich hab’ nur ein Leben.

Epilog - braucht's das?

Ich sitze hier und führe mir nochmals vor Augen, dass die Entscheidung direkt in den Hang einzufahren auch aus einem ganz anderen Gesichtspunkt „hirnrissig“ war:
Wir hatten mindestens eine sehr gute Alternative, nämlich die weniger steile Abfahrtsroute links über den Rücken und dann ins Kar. Oder sogar den Rückweg zur Scharte und von dort eine ganze andere Abfahrt zu wählen. Wären wir an diesem Tag nicht glücklich gewesen, wenn wir diese lawinentechnisch sicherere Linie abgefahren wären? Hätte das den Tag verändert? Wäre diese Tour dann unlohnend gewesen? Ganz sicher nicht.

In diesem Moment fällt mir ein, mir die gleiche Frage beim Lawinenunglück in Norwegen in den Lyngen-Alps im März gestellt zu haben. Wir waren selbst in der Region, sozusagen fast am Nachbarberg unterwegs und es war eine Woche mit für norwegische Verhältnisse legendären Wetterbedingungen. Hatten die Bergführer dort den Tag für ihre Kunden so viel besser machen können, indem sie eine spektakuläre Steilabfahrt auswählten, statt die offensichtlich auch lohnende und relativ sichere „Normalabfahrt“?

5 Nur ein Leben Teil2

Fazit

Es war doch schon alles super (Wetter, Schnee etc.). War bei uns im Zillertal nicht auch eh schon alles super?

Sicher ist dies kein Entscheidungsparameter zur Beurteilung der Lawinengefahr am Einzelhang. Die Frage, wann sich ein höheres Risiko am Berg „lohnt“, wird man nur individuell beantworten können. Oft ist aber gerade, wenn mehrere Alternativen zur Auswahl stehen, diese Frage sehr hilfreich, um abseits von diffusen Entscheidungsparametern hinsichtlich Lawinengefahr zu einer Entscheidung zu kommen, die klarer nicht sein kann. Vermutlich hat man sich bei der Gruppe in Norwegen (5 Todesopfer) diese Frage nicht gestellt, vielleicht hätte man sich sonst anders entschieden. Am Kleinen Kaserer habe ich mir diese Frage auch nicht gestellt, sie wäre aber sehr hilfreich gewesen.

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